Ostsee-Zeitung l Wochenendausgabe, 05. April 2008 | Politik l 749 Wörter
„Neue Kohlemeiler sind grandiose Fehlinvestition“

Die Grüne Renate Künast lobt die Greifswalder Initiative gegen das geplante Kraftwerk Lubmin. Auf dem Wahlkampfzettel der Partei steht unter dem Schwerpunkt ökologische Erneuerung ein Kohle-Moratorium.

Rostock (OZ) Der Länderrat von Bündnis 90/Die Grünen berät heute in Berlin unter dem Motto „Der Inhalt macht den Unterschied“ die Marschroute im Bundestagswahlkampf 2009. Die OZ sprach mit Renate Künast, Fraktionsvorsitzende der Partei im Bundestag.

OZ: Welche Inhalte sollen den Unterschied machen?
Künast: Oben auf der Agenda stehen die Umwelt- und Energiepolitik sowie die Themen Bildung, soziale Gerechtigkeit und Bürgerrechte. Schwerpunkt ist die ökologische Erneuerung. Anders als andere reden wir nicht nur darüber, wir meinen es tatsächlich ernst damit. Frau Merkel zum Beispiel deklariert Ziele für die Kohlendioxid-Reduzierung bis 2050 und macht sich aber zugleich in Brüssel stark für die deutsche Autoindustrie, die sich gegen EU-Vorgaben wehrt, ab 2012 den Schadstoffausstoß von Pkw drastisch zu senken. Die Biospritpolitik von Herrn Gabriel ist gerade implodiert. Ökologische Politik der Grünen will die Strukturen in der Energiebranche aufbrechen, hin zu dezentralen Versorgungsformen. Wir halten auch weiter ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen für unabdingbar, auch wenn das für einige unpopulär ist.
OZ: Auf dem Wahlkampfzettel der Grünen steht ein Kohle-Moratorium. Keine Kohlekraftwerke, Atom-Ausstieg, wie erklären Sie dem Wähler, wo der Strom in Zukunft herkommen soll?
Künast: Es wird viel über eine angebliche Versorgungslücke geredet. Diese gibt es nicht. Als das Erneuerbare-Energien-Gesetz von Rot-Grün beschlossen wurde, war es das Ziel, den Anteil erneuerbarer Energien bis 2010 in Deutschland auf 12,5 Prozent zu erhöhen. Das war 2006 bereits erreicht, heute sind wir bei 14 Prozent. Bis 2020 könnten es gut 40 Prozent werden. Auch lässt sich mit Erneuerung, Effizienz und Einsparung die Energiebilanz deutlich verbessern. Experten sagen, dass in der Sanierung der vorhandenen Gebäude im Land ein Sparpotenzial von 30 Prozent steckt.

OZ: In Mecklenburg-Vorpommern macht eine Volksinitiative gegen das geplante Steinkohlekraftwerk in Lubmin mobil. Wie bewerten Sie diese Kampagne?
Künast: Es ist die helle Freude. Vor zwei Jahren ist mir in einem Gespräch mit dem vorpommerschen Bischof Abromeit ein Licht aufgegangen, wie breit doch das Bündnis ist. Es ist ein hervorragendes Beispiel für bürgerliches Engagement. Neue Kohlekraftwerke sind grandiose Fehlinvestitionen. In den nächsten 30 bis 40 Jahren blockieren sie Investitionen in umweltverträgliche Stromerzeugung und sie zementieren die Monopolstellung der vier Energie-Riesen. Sinnvoll wäre es, vorhandene Kohlekraftwerke zu modernisieren und so Zeit zu gewinnen. Wer weiß schon heute, auf welchem technologischen Stand in zehn bis 15 Jahren Energie erzeugt wird.

OZ: Sie und Jürgen Trittin sollen als Spitzenkandidaten in den Bundeswahlkampf ziehen. Zwei Ex-Bundesminister unter Rot- Grün und der Handschlag mit der CDU in Hamburg, wie passt das zusammen?
Künast: Wir haben derweil in Deutschland real ein Fünf-Parteien-System. Da hat sich das Denken in alten Lagerkategorien auch bei den Wählerinnen und Wählern offenbar überholt. Alle Türen sind offen. Wir werden durch alle schauen und sehen, wo sich grüne Politik am besten umsetzen lässt.

OZ: Wie groß dürfen die Kröten sein, die die Grünen bereit sind zu schlucken?
Künast: In diesem Bild hat das etwas mit In-den-Hals-stopfen zu tun. Wir sind aber keine Stopfgänse. Die Grünen werden darauf achten, dass ihre politischen Marken nicht verschluckt werden. Wo Dinge zu vereinbaren sind, die in Richtung Reformen laufen, werden wir kompromissfähig sein.

OZ: Welche Marken setzen die Grünen bei Bildung, sozialer Gerechtigkeit und Bürgerrechten?
Künast: Alle Kinder sollen gleiche Bildungschancen haben. Darin liegt im Kern die Gerechtigkeitsfrage. Um das in der Praxis umzusetzen, wollen wir einen Teil des Solidaritätsbeitrages zum Bildungs-Soli machen. Das wären in den nächsten Jahren rund 23 Milliarden Euro. Es ist merkwürdig, bis 2019 werden die Ost-Transfers reduziert, den Soli-Beitrag sackt das Finanzministerium weiter ein. Wo bleibt das Geld? Wir sind für den Mindestlohn, und kämpfen für das Recht auf Privatheit gegenüber den Schäubles dieser Welt und der datenhungrigen Wirtschaft.

OZ: Die Grünen kriegen im Osten keinen Fuß auf die Erde. Was raten Sie den Freunden in MV?
Künast:
Im Osten gab es drastische Umbrüche. Da ist es schwierig gegen eine Konkurrenz wie die Linken, die populistisch Biotope der Unzufriedenen hegt. In Mecklenburg-Vorpommern ist derzeit mit der Volksinitiative grüne Politik praktisch erlebbar. Wir zeigen, dass wir was bewegen.

Interview: THOMAS SCHWANDT